Welche Möglichkeiten bieten sich uns heute, die kapitalistische Gesellschaft näher an sozialistische Strukturen heranzuführen? Viele kommunistische Parteien haben in der Vergangenheit die Oktoberrevolution in Russland als das Vorbild revolutionärer Veränderungen betrachtet. Heute sind die Bedingungen für eine solche Art der Machtübernahme so gut wie nicht gegeben. Wir müssen von den vorhandenen Strukturen im Kapitalismus ausgehen und diese in Richtung Emanzipation transformieren. Dadurch erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit einer gesellschaftlichen Transformation. Eigentlich ist diese Strategie in der politischen Praxis linker Parteien ohnehin allgegenwärtig, wenn sie sich für leistbares Wohnen, Energiesicherung oder ein Bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen.
Der US-amerikanische Marxist Erik Olin Wright[6] hat in seinem Buch »Reale Utopien – Wege aus dem Kapitalismus« die gegenwärtige Situation einer wissenschaftlichen Analyse unterworfen. Dazu bietet er einige theoretische Überlegungen und entwickelt einen »sozialistischen Kompass«, der uns eine Orientierungshilfe bieten soll, auch dann, wenn wir noch weit vom »Sozialismus« entfernt sind.
»In Ermangelung eines umfassenden Institutionenentwurfs für eine radikal demokratische, egalitäre Alternative zum Kapitalismus müssen wir Prinzipien institutioneller Erneuerung und institutionellen Wandels erarbeiten, die uns wenigstens sagen, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen« (172). Der Kompass baut auf dem abstrakten idealtypischen Vergleich dreier Organisationsformen von Macht über die Wirtschaft auf: Kapitalismus, Etatismus und Sozialismus.
Was heißt »sozial«?
Dazu klärt Wright zunächst, was das Wort »sozial« eigentlich bedeuten soll. Es kommt ja in »Sozialdemokratie« ebenso wie in »Sozialismus« vor. Oft wird »sozial« dazu verwendet, ein Programm zu charakterisieren, »das der umfassenden Wohlfahrt der Gesellschaft verpflichtet ist und nicht den begrenzten Interessen bestimmter Eliten« (172).
In den radikaleren Versionen deutet »sozial« in Abgrenzung zum Privateigentum auf gesellschaftliches Eigentum hin. Wie wir aus der Geschichte der realsozialistischen Länder wissen, wurde Eigentum z. B. in der DDR rechtlich entweder als »persönliches Eigentum« oder als »sozialistisches Eigentum« betrachtet. Der wichtigste Zweig des letzteren war das Volkseigentum, das aus Kombinaten, Volkseigenen Betrieben und gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen bestand und staatlich geleitet wurde. Aber es gab auch das Eigentum von Kleinhandwerkern und Kleingewerbetreibenden (es wurde rechtlich als »persönliches Eigentum« angesehen) und das genossenschaftliche Eigentum (Bestandteil des sozialistischen Eigentums), wo der direkte Einfluss der Arbeitenden in den Betrieben die zentrale Rolle spielte.
Macht, Herrschaft, Eigentum
Wie aus den obigen Bemerkungen ersichtlich geht es auch bei den Eigentumsstrukturen darum, wer in welchen Bereichen das Sagen hat und worüber er/sie entscheiden kann. Die Gesellschaftstheorie hat dafür den Begriff »Macht« eingeführt, der bis heute umstritten ist. Er hängt mit den Ressourcen zusammen, die den Mächtigen zugänglich sind, aber auch damit, in welchen Strukturen die Menschen leben. Zum Beispiel braucht sich im Kapitalismus niemand, der mehrere Immobilien sein Eigen nennt, um sein Einkommen Sorgen machen, solange der Wohnungsmarkt funktioniert. Die Strukturen selbst realisieren seine/ihre Interessen, ohne dass es einer direkten individuellen Anstrengung bedarf (die Verwaltung bzw. Betreuung der Immobilien kann ja gegen Bezahlung an ein Unternehmen ausgelagert werden). Eigentum an irgendeiner Ressource kann nur unter den entsprechenden Rahmenbedingungen, die in der Gesellschaft herrschen, zu einer echten Quelle von Macht werden.
Macht muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Steigerung der Fähigkeit einer Gruppe oder eines Individuums, sich durchzusetzen, notwendigerweise negative Auswirkungen auf andere hat und dass deren Fähigkeiten, Macht auszuüben, verringert werden. Ist ein Akteur imstande, die Handlungen anderer selbst dann zu kontrollieren, wenn sie dagegen sind, spricht Wright von »Herrschaft«, also »Macht über …«, was etwas anderes ist als »Macht zu …«. Wenn sich eine Gruppe vornimmt, gemeinsam eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, besitzt sie die »Macht zu …«, besteht eine Gruppe aus ArbeiterInnen in einer Fabrik, besitzt der Unternehmer »Macht über sie«.
Macht über die Produktionsmittel
Auf dieser Grundlage lassen sich verschiedene Machtformen unterscheiden: Wirtschaftliche Macht beruht auf der Verfügung über wirtschaftliche Ressourcen, staatliche Macht auf der Kontrolle über das Aufstellen und die Durchsetzung von Regeln, und schließlich gesellschaftliche Macht auf der Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren, freiwillig gemeinschaftliche Handlungen auszuführen. Wright verknüpft diese drei Arten mit den Methoden, die zu ihrer Durchsetzung angewendet werden. Er benennt sie direkt: Bestechung, Zwang und Überzeugung.
Mit diesen Methoden und Begriffen im Hintergrund können wir im Sinne von Wright darangehen, verschiedene idealtypische Wirtschaftsstrukturen danach zu unterscheiden, welche Form das Eigentum über die Produktionsmittel besitzt, sowie welche Art der Macht die wirtschaftliche Tätigkeit bestimmt:
- Im Kapitalismus sind die Produktionsmittel Privateigentum; die Zuteilung von Ressourcen wird ebenso durch Ausübung wirtschaftlicher Macht erreicht wie die Überwachung der Produktion und die Festlegung der Investitionen.
- Im Etatismus sind die Produktionsmittel Eigentum des Staates; die Zuteilung von Ressourcen wird durch staatliche Macht erreicht. Staatsbeamte bestimmen die Investitionen und die Produktion durch einen staatlich-administrativen Mechanismus.
- Im Sozialismus sind die Produktionsmittel in gesellschaftlichem Eigentum; die Zuteilung von Ressourcen wird durch die Ausübung gesellschaftlicher Macht bewältigt, d. h. durch einen Prozess, der die Fähigkeit besitzt, »Menschen in der Zivilgesellschaft für kooperative, freiwillige und kollektive Handlungen verschiedener Art zu mobilisieren« (185). Durch diese Festlegung lässt sich die Zivilgesellschaft als Schauplatz realer Macht ansehen, und nicht bloß als Sphäre der Kommunikation und Gesellschaftlichkeit.
»Demokratie« lässt sich so als spezifisches Instrument zur Unterordnung der staatlichen unter die gesellschaftliche Macht auffassen, und der »Sozialismus« als Instrument zur Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die gesellschaftliche Macht. Damit zeichnet sich ein Sozialismusbild ab, das stark von den traditionellen Vorstellungen des Realsozialismus abweicht, die sich an den Etatismus anlehnten. Bezüglich der Rolle der Märkte bzw. der Art der Wirtschaftsplanung lässt dieses Sozialismuskonzept verschiedene Koordinierungsmöglichkeiten der Wirtschaft zu. Dieser Sozialismus geht über das traditionelle Revolutionsmodell und die damit verbundene zentralisierte staatliche Planung hinaus. Er umfasst theoretisch verschiedene gangbare Wege in Richtung einer »umfassenden, auf breiter Grundlage aufgebaute Wirtschaftsdemokratie« (189).
Der »sozialistische Kompass«
Eric Ohlin Wright meint, dass wir eine Wirtschaft umso eher als sozialistisch bezeichnen können, »je höher der Grad gesellschaftlicher Ermächtigung mit Bezug auf das Eigentum an wirtschaftlichen Ressourcen und Tätigkeiten sowie deren Gebrauch und Kontrolle ist« (195). Seine Typologie ermöglicht ihm, einen Rahmen aufzuspannen, im dem sich eine konkrete Gesellschaft in Bezug auf verschiedene Formen und Stärken der Macht verorten lässt. Diesen Rahmen nennt er »sozialistischen Kompass«. Für Wright ist die gesellschaftliche Macht der Zivilgesellschaft zentral für den Weg zu einem Sozialismus. Abb. 10 zeigt alle Verknüpfungen zwischen den drei Arten der Macht mit der Wirtschaft (Kreis in der Mitte der Graphik). Die Wirtschaft wird neutral aufgefasst, sofern sie nicht irgendwelchen Machteinflüssen unterworfen wird. Durch Kombination mit den einzelnen Pfeilen der Graphik lassen sich verschiedene Wirtschaftsformen idealtypisch unterscheiden (die jeweils anderen Pfeile sind dabei weggedacht):
Ist Pfeil 1 wirksam, erzeugt die Wirtschaft durch gesellschaftliche Macht angeregt Produkte zur Bedürfnisbefriedigung der Menschen: Wright nennt sie Sozialwirtschaft.
Ist Pfeil 2 wirksam, wird die Wirtschaft staatlich bestimmt: Wright nennt sie Staatswirtschaft.
Ist Pfeil 3 wirksam, wird die Wirtschaft kapitalistisch bestimmt: Wright nennt sie Kapitalistische Marktwirtschaft.
Neben diesen drei direkten Wirkungen auf »die Wirtschaft« beschreiben die weiteren Pfeile indirekte Wirkungen des Einflusses der Zivilgesellschaft auf die anderen Machtblöcke. Ein Beispiel, das in den Sozialismustheorien eine wichtige Rolle spielte, ist der Staatssozialismus. Die Theorie nahm an, dass eine sozialistische Partei die Menschen zur Teilnahme an kollektiven Handlungen mobilisieren kann. Sie unterliegt selbst einer demokratischen Kontrolle und kontrolliert den Staat (Pfeil 4), und dieser wiederum die Wirtschaft (Pfeil 2): Dann wäre ein Staatssozialismus durchaus legitim. Dies war das Kernstück kommunistischer Vorstellungen von revolutionärem Sozialismus. Darüber hinaus dachte man an eine radikale Umgestaltung staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen mittels partizipativer Räte (in Russland die Sowjets), wodurch Arbeitervereinigungen unmittelbar an der Machtausübung beteiligt wären. Die Partei (gesehen als Avantgarde) sollte als führende Kraft dieser Veränderung wirken.
Wie wir wissen, hat die Geschichte aus den verschiedensten Ursachen einen anderen Weg genommen. Viele Möglichkeiten in Richtung dieses Staatssozialismus wurden durch den russischen Bürgerkrieg und die ersten Revolutionsjahre zerstört, die staatlich-bürokratischen Mechanismen begannen zu überwiegen, und es entwickelte sich ein »Autoritärer Etatismus«. Den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis zeigt Abb. 11.
Der erwartete radikaldemokratische Staat änderte seine Einflussnahme und Form der Planung in Richtung eines autoritären Einparteienstaates, der die soziale Kontrolle über die Zivilgesellschaft erlangte und so deren Macht an den Rand drängte. Die Verbrechen eines Joseph Stalin haben dort ihren Ursprung.
Ein anderer Typ von Herrschaftsausübung ist Wright die »sozialdemokratisch-staatliche Wirtschaftsregulierung« (Nur die Pfeile 3, 4 und 5 kommen vor). Danach würde die Zivilgesellschaft erhebliche Macht über den Staat besitzen (über Pfeil 4), der die Wirtschaftsregulierung (über Pfeil 5) gemeinsam mit den Kapitalisten vornimmt (Pfeil 3), aber sich eigenständiger Wirtschaftstätigkeit enthält. Im historischen Verlauf führt aber diese Variante zur »kapitalistisch-staatlichen Wirtschaftsregulierung«, bei der die Zivilgesellschaft ihren Einfluss auf den Staat verloren hat (Pfeil 4 verschwindet). Diese Situation hat große Ähnlichkeit mit Österreichs Wirtschaft in dem Vierteljahrhundert zwischen der Wirtschaftskrise 1975 und der Regierung Schüssel im Jahr 2000, in dem die Verstaatlichte Industrie stark zurückgefahren und zu einem großen Teil privatisiert wurde.
Mit der Sozialpartnerschaft, die heute immer mehr in Bedrängnis kommt, hat Österreich nach dem 2. Weltkrieg einen Weg beschritten, in dem VertreterInnen der Sozialpartner jenseits der parlamentarischen Demokratie nach Wright eine so genannte »Verbandsdemokratie« (Pfeile 1, 2 und 3) bildeten. Allerdings ist dieses Bild meiner Meinung nach irreführend, denn die Sozialpartnerschaft hatte keinen direkten Einfluss auf die »Wirtschaft«, sondern bildete ein relativ eigenständiges Gremium, in dem Vorschläge für Gesetzesänderungen ausgehandelt wurden, die dann über die entsprechenden Kanäle der staatlichen und wirtschaftlichen Macht vollzogen wurden.
Der »soziale Kapitalismus« besteht im Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Kapitalisten (Pfeile 6 und 3), die unter diesen Umständen eine modifizierte Wirtschaftsführung praktizieren. Die staatliche Macht bleibt außen vor und hat keinen aktiven Einfluss auf das ökonomische System (außer durch die kapitalfreundliche Gesetzgebung). Als emanzipatorische Utopie führt Wright die Möglichkeit US-amerikanischer Gewerkschaften an, die über ihre Pensionsfonds Milliardenbeträge bewegen. Diese könnten wie in Kanada in Risikokapital-Fonds fließen, die von der Arbeiterschaft kontrolliert werden, und neue Unternehmen, die bestimmte soziale Kriterien erfüllen, mit Startkapital versorgen. In die gleiche Kategorie fallen Konsumentenschutzbewegungen, die auf Großkonzerne Druck ausüben, ihre Produktionsbedingungen zu vermenschlichen bzw. fairen Handel zu betreiben.
Eine »Kooperativ-Marktwirtschaft« (Pfeile 1, 6 und 3) könnte die Möglichkeit bieten, dass sich einzelne Kooperativen zu Kooperativ-Verbänden zusammenschließen, die leichter an Kredite herankommen. Die Kooperativen würden so unmittelbar auf die Wirtschaft Einfluss nehmen, ohne durch kapitalistische Orientierung behindert zu werden.
Die »Sozialwirtschaft« (nur Pfeil 1) ist jener Pfad der gesellschaftlichen Ermächtigung, wo Freiwillige aus der Zivilgesellschaft selbst bestimmte Aspekte der Wirtschaftstätigkeit organisieren. Ein typisches Beispiel ist Wikipedia, eine sehr erfolgreiche Form einer Enzyklopädie, frei von Formen der Profitmaximierung, außerhalb des Marktes und ohne staatliche Förderung. Aber auch durch Spenden finanzierte Altenpflege oder Kinderbetreuungssysteme gehören dazu.
Als letzte Variante beschreibt Wright den »Partizipativen Sozialismus« (Pfeile 1, 4 und 2), in dem die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft berücksichtigt sind. Die partizipative Haushaltsplanung in Porto Alegre, aber auch in einigen spanischen Städten, hat beeindruckende Resultate hervorgebracht und wären auch für österreichische Hauptstädte zu empfehlen. In Barcelona gibt es Lerngemeinschaften, deren Verwaltung gemeinsam zwischen Eltern, Lehrern und Menschen aus der Gemeinde vorgenommen wird.
An Beispielen mangelt es nicht, eine Veränderung der Wirtschaft durch Beteiligung der Zivilgesellschaft zu erreichen. Es muss nur getan werden.
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